Energiekosten als Risikotreiber mit Sprengkraft

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Seit über einem Jahr dominieren spürbar steigende Preise den Energiemarkt. Die jüngste Eskalation im Zusammenhang mit der Unsicherheit russischer Erdgaslieferungen stellt aber eine ganz neue Situation für Einkäufer:innen auf beiden Seiten des Liefervertrags dar, denn das Problem nahezu unkalkulierbarer Risiken besteht für Kunden und Lieferanten gleichermaßen.

Aus dieser Konstellation ergeben sich neue Herausforderungen für alle Unternehmen und öffentlichen Auftraggeber, die sich derzeit mit dem Abschluss neuer Strom- und Gaslieferverträge beschäftigen wollen oder müssen.

Wer in diesen Tagen Preisanfragen für das Lieferjahr 2023 an den Markt richtet, weiß zwar in der Regel um die Vervielfachung der zu erwartenden Energiepreise im Vergleich zum Bestandsvertrag. Auf die neuen Rahmenbedingungen beim Einkauf und den enormen Entscheidungsdruck sind die meisten allerdings nicht vorbereitet.

Der Energiemarkt als Verkäufermarkt

Die neuen Herausforderungen für Unternehmen werden besonders deutlich, wenn man den Vergleich zur bisher üblichen und erfolgreichen Praxis zieht.
Überspitzt und vereinfacht dargestellt, lief der Einkauf von Strom und Gas auch in größeren Unternehmen nach dem folgenden Schema:

Der reine Energiepreis als verhandelbare Kostenposition machte am Beispiel Strom zuletzt angesichts steigender gesetzlicher Preisbestandteile gerade ein Fünftel der Stromgesamtkosten aus. Mit bewährten Laufzeiten von 2 bis 3 Jahren im Festpreis oder einem flexiblen Spotmarktprodukt war Energiebeschaffung in Zeiten mit geringer Volatilität ein Standardthema für die Einkaufsabteilung. Wenn es „an der Zeit“ war, neue Lieferverträge für das Folgejahr zu verhandeln, wurden Folgeangebote beim Bestandslieferanten angefordert und ggf. mit aktuellen Preisen anderer Anbieter verglichen. Den Zeitpunkt gab ein Blick auf die allgemeine Marktentwicklung, interne Routine oder eine fällige Kündigungsfrist vor. Manuell durchgeführte Ausschreibungen per E-Mail waren ohne hohen Zeit- und Entscheidungsdruck möglich, denn unabhängig vom Verteiler war klar: Lieferanten kalkulieren Angebote, die Kunden dominieren den Käufermarkt. Selbst für Kunden mit hohem Energiebedarf galten Bindefristen von mehreren Stunden oder über Nacht, Mengentoleranzen wurden möglichst ausgeschlossen und Sicherheitsleistungen waren Unternehmen mit schlechter Bonität vorbehalten. Wurden die Anfragen einige Wochen später aktualisiert, rechnete man mit Differenzen im Zehntel-Cent-Bereich, aber auf gleichem Niveau und verhandelte schließlich im Hundertstelbereich nach.

Seit Oktober 2021 hat sich der Energiemarkt zunehmend zum Verkäufermarkt entwickelt, der selbst erfahrene Einkäufer überrascht:

  • Sehr hoher Entscheidungsdruck: Die extreme Volatilität auch untertägig zwingt zu stark verkürzten Bindefristen (max. 1 Stunde), die Direktvergleiche nahezu unmöglich machen
  • Kaum Zugang zu Vergleichsangeboten: Lieferanten ziehen sich aus dem Vertrieb zurück und kalkulieren z.T. nur noch Folgeangebote für Bestandskunden
  • Unerwartete Forderungen zur Absicherung: hohe Sicherheitsleistungen und Vorkasse auch für Unternehmen mit guter Bonität in krisensicheren Branchen

Während manuelle Ausschreibungen kaum noch zu belastbaren Ergebnissen führen, rücken systemgestützte Lösungen und Plattformen in den Vordergrund, um das Problem der kurzen Bindefristen und damit zumindest das Risiko von sehr kurzfristigen Preiseffekten auf beiden Seiten möglichst gering zu halten.

Preisvervielfachungen seit Sommer 2021

Prognosen zur aktuellen Preisentwicklung sind spätestens seit Ende Februar hochspekulativ. Ein indexierter Blick auf die Marktentwicklung seit Beginn der Pandemie hilft, um die derzeitigen Extreme einzuordnen.

Im März 2020 reagierten die Märkte auf den ersten pandemiebedingten Lockdown mit deutlichen Abschlägen. Wer die Wochen im Frühling 2020 trotz aller Unsicherheiten für eine Einkaufsentscheidung genutzt hatte, sieht sich in diesen Tagen einer Verzehnfachung beim Strom und einer Verzwölffachung beim Gas für das Lieferjahr 2023 ausgesetzt. Die indexierte Darstellung macht allerdings auch deutlich: Bereits im Juli 2021 hatten sich die Kurse verdoppelt – ein Effekt, der angesichts der extremen Entwicklungen der vergangenen Monate schnell übersehen wird.

Indexierte Kursentwicklung: Frontjahr (22.03.2020 – 11.07.2022)

ISPEX, Indexierte Kursentwicklung, Frontjahr

Wieviel Preisrisiko kann ein Unternehmen tragen?

Auf dem aktuellen Niveau sind die Kosten für den Bezug von Strom und Erdgas nicht mehr nur erfolgskritisch, sondern zum Teil existenzbedrohend. Energie wird zur Chefsache.

Neben den klassischen Energieeinkauf treten Entscheidungen über Investitionen in Eigenversorgungsanlagen und Energieeffizienzmaßnahmen, die vielerorts angesichts der niedrigen Bezugskosten lange Zeit ruhten und jetzt aufgrund begrenzter Kapazitäten im Markt nur mittelfristig umgesetzt werden können. Zumindest für das Lieferjahr 2023 bedeutet das volles Einkaufs- und Preisrisiko, das mit Blick auf Liefer- und Vertriebsketten bewertet werden muss.

Die Frage, wie viel Risiko ein Unternehmen beim Einkauf von Strom oder Erdgas tragen kann, ist in erster Linie die Frage nach der passenden Beschaffungsstrategie. Ein Festpreis im Terminmarkt ist inzwischen für nur noch wenige Akteure eine wirtschaftliche Option. Das Beschaffungsrisiko und damit die Kostenbelastung für ein ganzes Geschäftsjahr auf genau einen Einkaufszeitpunkt zu verlagern, ist im extrem sprunghaften Marktgeschehen in der Regel zu hoch. Und doch gibt es weiterhin v.a. große Unternehmen, die für die Kalkulation 2023 zwingend einen Festpreis benötigen oder solche, die nach abenteuerlichen Jahren im Spotmarkt wieder Planungssicherheit suchen – koste es, was es wolle. Mit verschiedenen Ansätzen zur Tranchenbeschaffung, die das Einkaufsrisiko im Terminmarkt auf mehrere Zeitpunkte verteilen und zum Teil mit flexiblen Spotprodukten kombinierbar sind, bieten leistungsfähige Lieferanten und Dienstleister derzeit Optionen v.a. für größere Energieabnehmer.

Welche Strategie passt zu welchem Unternehmen?

Wer sich mit der eigenen Beschaffungsstrategie beschäftigt, sollte in geeigneter Runde u.a. die folgenden Fragen diskutieren und ggf. externe Dritte wie Banken, Wirtschaftsprüfer oder Unternehmens- und Steuerberater zur Bewertung der Situation einbeziehen:

  • Sind gravierende Abweichungen von Budgetplanungen akzeptabel?
  • Sind Limits festzulegen, um das Unternehmen zu schützen?
  • Muss die Beschaffungsstrategie zur Minimierung der Risiken mit dem vertrieblichen Vorgehen synchronisiert werden?

Falls Sie es bisher noch nicht getan haben: Die laufende Wartung von Nord-Stream-1 und die damit verbundene maximale Unsicherheit im Markt sind genau der richtige Zeitpunkt, um diese Gespräche auf Geschäftsleitungsebene zu führen.

 
Die Verwerfungen an den Energiemärkte haben 2022 historische Dimensionen angenommen.
Ist Ihre Beschaffungsstrategie dem gewachsen?

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Andreas Seegers

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